Gottschalks schwerste Show

Dieses Mal kommt Thomas Gottschalk (60) nicht aus der bunten Haribo-Welt. Kein kreischbuntes Goldbären-Outfit. Kein Barocker Anzug. Stattdessen: ein lakritzschlangen-frabener, grau-schwarzer Dreiteiler. Dazu eine schwarz-weiße Krawatte. Gedeckte Farben. Gedeckte Stimmung.
Samstag vor einer Woche ist „Wetten dass ..?“-Kandidat Samuel Koch beim Sprung über ein Auto schwer verunglückt – er liegt noch immer gelähmt auf der Intensivstation, wird künstlich beatmet. Mit seinem Sturz wurde auch die heile Fernsehwelt gelähmt – und ihr größter Star, Thomas Gottschalk. Der Sunnyboy lernte die Nachtwelt eines Entertainers kennen.
Vor einer Woche brach er „Wetten dass ..?“ ab – und hat damit Menschlichkeit bewiesen. Nun heißt es wieder: „The show must go on.“ Aber kann ein Mensch sich so schnell von seinem Schock erholen?
Studio Neun der Bavaria-Studios bei München. Die Schein-Welt des Fernsehnens liegt gedämpft unter einer Schneedecke. Rund 1.000 Zuschauer sind gekommen, um zu sehen, wie Gottschalk den Jahresrückblick „Menschen 2010“ für das ZDF aufzeichnet (Ausstrahlung heute Abend, 20.15 Uhr). 
Das Studio ist in oranges ZDF-Licht getaucht. Die Scheinwerfer strahlen heiß. So wie immer. Aber kann sich die Medienmaschine einfach weiter drehen? 
Gottschalk verzichtet auf einen „Einpeitscher“. Er will nicht, dass irgendjemand dem Publikum erklärt, wie und wann es zu lachen und zu klatschen hat. Nicht heute. Nicht nach dem Unfall. Diese Drecksarbeit des Fernsehens übernimmt er diesmal selbst. Chapeau!
Die Kameras laufen noch nicht, als Gottschalk zum ersten Mal auf der Showtreppe steht. Im Hintergrund prangt ein Sternenhimmel aus Glühbirnen. Seine ersten Sätze spricht er mit fester Stimme: „Letzten Samstag habe ich in niedergeschmetterter Stimmung die Spielfläche verlassen. Und ich konnte und wollte nicht zur Tagesordnung übergehen.“ Pause. Totenstille. Erst jetzt sieht man, unter welch gewaltiger Spannung der Mann steht. Der Unfall ist ihm nahe gegangen. Aber Thomas Gottschalk ist zum moderieren geboren. Er hat an eine Sendepause gedacht. Aber die Macht der Bühne war größer. Der Wunsch nach der Normalität des Scheins.
„Das heute ist keine Tagesordnung“, erklärt er. Das klingt ein bisschen, als wolle er sich entschuldigen. Dass ausgerechnet in seiner Show der schlimmste Unfall der deutschsprachigen Fernsehgeschichte passiert ist. Und dass er schon wieder weiter macht. „Eine solche Spielshow hätte ich auch nicht machen können.“ Leises Getuschel. Thomas Gottschalk versucht, die Fernsehwelt für sich neu zu ordnen.
Vor der Sendung hat er mit dem Vater von Samuel geredet. Dem Mann, der das Auto fuhr, über das der eigener Sohn stürzte. Den Wagen, hinter dem der junge, lebensfrohe Turner und Stuntman regungslos liegen blieb. Ein Unfall, der das Fernsehen verändert hat. Der die heile Wohnzimmerwelt aus den Angeln gehoben hat. Der den Zuschauern das Gefühl der Sicherheit genommen hat.
„Es geht Samuel besser“, sagt Gottschalk, „es gibt positive Zeichen.“ Samuels Vater hat dem Moderator gesagt: „Du musst nicht den ganzen Tag Trauer tragen.“ Dieser Satz ist eine Art Absolution für das Bühnentier Gottschalk. Ein Ansporn, weiterzumachen. Aber wie? 
Sein Feind scheint nicht der Unfall zu sein, sondern die eigene Zerrissenheit. Gottschalk scheint zum ersten Mal seinen Job zu hinterfragen: die Maschinerie der Unterhaltung, deren Zeremonienmeister er ist.
Er weiß, dass die Show weitergehen wird. Und er weiß, dass er Teil der Show sein will. Aber man hört ihm sein schlechtes Gewissen an. Seine Angst, den Bogen nicht zu kriegen. Auf der einen Seite den Wunsch, über den Unfall zu reden. Auf der anderen, den Wunsch, die gute Laune nicht zu verlieren. 
Kann man eine Haribowelt mit Trauerflor inszenieren?
Ich habe meinen Gästen gesagt, dass wir uns nicht beherrschen müssen“, sagt Gottschalk, und zum Publikum: „Es ist auch keine Hilfe, wenn Sie sich zurückhalten. Man kann keine Sendung machen, ohne, dass gelacht wird.“ Totenstille.
Dann beginnt der Moderator mit den ersten, zaghaften Späßen. Er lästert über die Frisuren und die Garderobe des Publikums („Warum sitzen Sie in der ersten Reihe? Die Dame dahinten wäre doch viel besser!“). Seine Witze – so flach sie sind - zünden. Erste, zaghafte Lacher. Gottschalk wird selbstbewusster. „Ich bin nun einmal so“, sagt er, „und ich bleibe auch so.“ Dann etwas stolz: „Die Reflexe funktionieren noch.“ Die Maske kommt und tupft ihm den Schweiß aus dem Gesicht.
Die Show beginnt. Gottschalk redet über das Leben als Achterbahn und über 2010 als Achterbahn-Jahr. „Wie schnell es von oben nach unten geht, habe ich letzten Samstag erlebt.“ Seinen ersten Gast, Deutschlands Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg, kündigt er mit den Worten an: „Ich weiß nun besser, was es bedeutet, wenn von politischer Verantwortung die Rede ist.“
In Afghanistan werden Deutsche Soldaten verwundet und getötet. Und obwohl der Krieg keine Spielshow ist, zieht Gottschalk Parallelen: „Ich habe zum ersten Mal erlebt, dass ich betroffen bin, obwohl ich unschuldig war.“ Guttenberg pariert die merkwürdige Reinwaschung trocken: Auch er habe lange überlegt, ob er sich bei den Familien der gefallenen Soldaten entschuldigen müsse – und entschieden, dass er um Verzeihung bitten will. „Weil sich das so gehört, und ich eine Verantwortung trage, die mich bis an mein Lebensende begleitet.“ Für einen Moment verliert Thomas Gottschalk seine Schlagfertigkeit. Ist ganz mit sich und seinen Gedanken beschäftigt. Man kann das Rattern in seinem Kopf hören. Dann duzt er seinen Freund, den Verteidigungsminister, plötzlich und stilisiert ihm zum nächsten Bundeskanzler. Nun ist er wieder der Alte.
Der Jahresrückblick plätschert in Moll dahin: Ein Amerikaner, der 35 Jahre lang unschuldig im Knast saß, tritt auf, und ein in Chile begrabener Bergmann. Als ein Wissenschaftler Naturkatastrophen, Vulkanausbrüche und das Erdbeben auf Haiti mit dem Satz „Shit happens“ erklärt, scheint Thomas Gottschalk sich zu wünschen, dass diese Worte auch für den „Wetten dass ..?“-Unfall gelten könnten. Können sie aber nicht.
Der tödliche Unfall des georgischen Rodlers, der beim Abschlusstrainig stürzte, bleibt eine Randnotiz, und auch als Michael Schumacher über seinen Crash beim Formel1-Rennen in Abu Dhabi erzählt („Das war ein unangenehmer Moment im Tagesgeschäft“), verzichtet Gottschalk auf die Debatte, ob das Fernsehen die Gefahr kalkuliert. Er spricht nicht aus, was alle denken. 
So hell die Scheinwerfer strahlen, so herzlich die Gäste lachen, und so sehr Gottschalk sich um Routine bemüht: die Dunkelheit des Unfalls liegt wie ein Schleier über der Sendung – und ihrem Moderator.
Als es um die Toten der Love-Parade in Düsseldorf geht, sagt Gottschalk: „Man hätte hoffen können, dass es gut geht - so wie ich letzte Woche.“ Und dann fügt er hinzu: „Aber am Ende geht es auch um politische Verantwortung.“ Als die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, ihm antwortet: „Es geht um Menschen“, ist zu spüren, wie Gottschalks Herz pocht. Nein, der Unfall wird ihn so schnell nicht verlassen.
Egal, worum es sich handelt. Samuel ist immer präsent – auch wenn Gottschalk ihn irgendwann nicht mehr thematisiert. Der Junge im Krankenhaus ist immer da: er schwebt über Haiti, Afghanistan und der Love-Parade. Und im Laufe der Sendung scheint Gottschalk zu ahnen, dass der Unfall mit seinem Namen verbunden sein wird. Dass keine Tragödie groß genug ist, um ihn nicht an seine eigene zu erinnern. Und dass all das keine Frage von Schuld ist. Sondern der Moral.
Irgendwann will er dann nur noch der Moderator der guten Laune sein, der Knietätschler und Charmeur. Den lässt er bei Iris Berben (ist 60 geworden) und Mario Adorf (ist 80 geworden) raushängen. Und das gelingt auch, bei Alice Schwarzers Endlos-Einlassungen zu Jörg Kachelmann und wenn am Ende die WM gefeiert wird. Dann ist Thomas Gottschalk fast wieder in seiner schwarz-rot-goldene Gummibärchenwelt angekommen.
Aber er schafft es nicht, das Achterbahn-Jahr 2010 ohne seine eigene Seelen-Achterbahn zu moderieren. Er ist als Profi angetreten. Als jemand, der offen mit seiner eigenen Tragödie umgehen wollte. Aber auch als jemand, der den Spaß nicht verlieren wollte. 
„Menschen 2010“ hat ihm gezeigt, dass man in einer Achterbahn nicht selber lenkt. Der Schatten von Samuel Koch begleitet Thomas Gottschalk. Und vielleicht macht ihn gerade das so menschlich – und unverzichtbar für das Fernsehen.
(Erschienen im Sonntags Blick)