Deutschland schafft sich ab?

Haben wir eigentlich keine anderen Probleme? Wie viele Sendestunden, Zeitungsseiten und Radiosendungen wurden eigentlich für Thilo Sarrazins Polemik-Thesen geopfert? Und mit was für einem Erfolg? Die Debatte, die der Bundesbank-Chef über Deutschland bringt, scheint ein sich selbst fortpflanzendes Insekt zu sein, das inzwischen zu einer Plage wird. Am Anfang stand das Buch. Es folgte der Zeitungsabdruck. Dann kamen die Fernsehsendungen und die Gegen-Fernseh-Sendungen. Schnell wurde klar: weder die Entzauberung durch Fakten greift, noch Argumente. Sarrazin hat ein emotionales Problem angesprochen, eines das in den Köpfen und nicht auf dem Papier existiert. Und so diskutieren wir kaum noch über die Fakten von Integration und Migration, sondern über die freie Rede an sich, über das Ohr der Parteien am Volk, über den Menschen Sarrazin und das Medienphänomen, das er angezettelt hat. Aber worum geht es eigentlich wirklich?

Ach ja, um die These, dass Deutschland sich abschafft. Das Land wird dümmer und droht auszusterben. Mit diesen Behauptungen hat Sarrazin nachweislich Recht. Aber ob das an den integrationsunwilligen Ausländern liegt, ist fraglich! Der Debatten-Mechanismus ist so alt wie gefährlich: Einem Land geht es schlecht, die Bildungspolitik ist eine Katastrophe, der Sozialstaat funktioniert nur halb, Angst vor Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit kursiert. Wie einfach ist es da, diese komplexen Dinge mit einer emotionalen These wegzuwischen und nicht uns selbst, sondern andere verantwortlich zu machen. Über den schlecht sprechenden, betrunkenen, deutschen Hartz IV-Empfänger lachen wir, wenn er im Fernsehen zu sehen ist, der Türke macht uns Angst. Aber sind es wirklich die immigrationsunwilligen Ausländer, die Schuld am Zustand der Republik haben? Natürlich nicht!

Deutschland schafft sich seit Jahren selbst ab. Unsere Bildungspolitik ist ein Skandal, ein Großteil der Deutschen kann von den Transferleistungen kaum leben, Zukunftsangst und Kinderfeindlichkeit lassen die Geburtenrate stagnieren. Wohl gemerkt: dieser Prozess findet nicht in den Großstädten statt, sondern auch auf dem Land. Nirgendwo sind die Deutschen so arm wie in den Provinzen, nirgends ist ihre Bildung so miserabel wie auf den Dörfern, nirgends verlassen so viele Menschen ihre Heimat wie hier. Nirgendwo ist es so schlecht um Deutschland bestellt wie dort, wo fast nur Deutsche leben! Länder wie Mecklenburg oder Brandenburg wären glücklich, wenn sie die Landflucht durch Ausländer stoppen könnten. Doch die haben keine Lust, dorthin zu gehen, wo Deutschland dabei ist, sich abzuschaffen. Dorthin, wo unsere Bildungs- und Sozialpolitik, unsere Regional- und Arbeitsmarktpolitik versagt. Ganz ohne Ausländer.

Wenn man nun liest, dass Sarrazin mit einer eigenen Partei 18 Prozent der Menschen ansprechen würde, kann man davon ausgehen, dass die Mehrheit dieser Leute nicht aus Städten mit starkem Migrationsanteil kommt, nicht aus Hamburg, Berlin oder München, sondern aus jenen Regionen, in denen Deutschland und die Deutschen sich selbst abschaffen. Seit jeher ist die Skepsis gegenüber Ausländern dort am größten, wo wenige von ihnen leben. Ausländerangst ist ein Phänomen jener Menschen, die sich von ihren eigenen Landsleuten vernachlässigt fühlen. Deshalb sollten wir in Zukunft lieber über die Deutschen sprechen, wenn wir über das Ende unseres Landes reden. Dafür wäre jede Sendeminute kostbar.

Im Frühjahr erscheint Axel Brüggemanns Buch über die deutsche Provinz