Wiedergelesen: “Schuld und Sühne”
Für den Weser-Kurier hat Axel Brüggemann Dostojewskis “Schuld und Sühne” wiedergelesen. Hier seine Gedanken zum Buch der Bücher:
Dieser Text ist eine kleine Lüge, denn ich habe Fjodor Dostojewskis Mammut-Roman „Rodin Raskolnikoff“ oder „Schuld und Sühne“ nie „wieder gelesen“. Die Wahrheit ist, dass ich dieses Meisterwerk von 1866 vor einigen Jahren zum ersten Mal überhaupt gelesen habe. Ich wusste zwar, dass dieser Backstein von einem Buch (770 voll beschriebene Seiten!) eigentlich zur Grundlektüre eines pubertierenden Humanisten gehören sollte, aber damals habe ich meine Zeit lieber mit „Asterix“ und Shakespeare vertrieben - was auch nicht geschadet hat!
Dass ich dann irgendwann mit „Schuld und Sühne“ begonnen habe, war eher eine Verzweiflungstat. Ich bin grundsätzlich ein 20-Seiten-Leser. Das bedeutet: gefällt mir ein Buch nach 20 Seiten nicht, höre ich auf, es zu lesen. Damals ergab es sich, dass mich die ersten Seiten der neuen Bücher der Stuckrad Barres, Alexa von Hennning-Langes und Christian Krachts nicht gefallen haben. Statt meine Zeit mit langweiligem Lit-Pop zu verschwenden, habe ich mit dem Vorsatz in mein Bücherregal gegriffen, mal wieder einen Klassiker zu lesen. Die Sommerferien standen vor der Tür und ich habe mich für den dicksten Schinken entscheiden, der noch auf meiner lebenslangen „to read“-Liste stand.
Heute weiße ich: Wenn es einen Roman gibt, der das Leben des Lesers verändert, dann ist es dieser! Ich versuche einmal, es auszudrücken, wie Dostojewski es vielleicht getan hätte: Als A** das Buch aus dem Regal seiner Bibliothek nahm, sich auf den Holzstuhl an seinen Lesetisch setzte und die ersten Seiten las, die damit beginnen, dass der Student Rodin Raskolnikoff einen Mord begeht, nur um zu beweisen, dass er dem Rest der Welt überlegen sei, war A** nicht mehr in der Lage, Teil seiner Umwelt zu sein, jener Menschen, die vorgaben ihn zu lieben. A** versank in den düsteren Gedanken der Romanfigur, er begann ihren Schweiß zu schwitzen, ihre Angst zu beben und ihre Verzweiflung zu spüren. Und als seine Freundin ihn eines Tages fragte, ob er nicht doch essen wolle, und ob ihn das Familienleben denn gar nicht mehr interessiere, schaute A** nicht einmal von seiner Lektüre auf, las einfach weiter, denn er wollte die Dunkelheit, in die er eingetaucht war, nicht verlassen, weil er hoffte, dass es irgendwo einen Ausweg in der Geschichte geben würde, die ihm erlauben könnte, zurückzukehren in seine Welt, um als normaler Mensch an ihr teilzuhaben. Doch die Tage vergingen und A** setzte sich morgens an seinen Tisch und stand bis zum späten Abend nicht mehr auf. Er begann Mitleid für den Mörder zu empfinden, was ihn ärgerte. Außerdem spürte A**, wie er Raskolnikows Wunsch teilte, endlich entdeckt, verurteilt und bestraft zu werden – dafür, dass er mit seinem unsozialen Dasein immer wieder durchkommt.
So ungefähr also verlief also meine Lektüre dieses Buches. Um es ganz unprosaisch zu sagen: Ich habe diesen Roman durchlitten! Der Erkenntnisprozess, den man in „Schuld und Sühne“ durchmacht, ist nicht nur spannender als jeder Wallander sondern löscht alle bisher als sicher geglaubten Konstanten von Recht und Ordnung, um sie vollkommen neu zu definieren.
Was sich etwas kompliziert anhört, wird jeder, der dieses Buch gelesen hat, verstehen. Dostojewski verändert unseren Blick auf die Welt. Egal, ob es um politische, kirchliche, um private oder öffentliche Lügen geht – wir werden sie nach der Lektüre anders bewerten. Auch deshalb, weil der Romanheld uns zeigt, dass jeder Idealismus, jede Selbstüberschätzung, die dem Menschen innewohnt, irgendwann doch einer Welt zum Opfer fällt, die richtiger, größer und menschlicher ist als jeder einzelne Mensch es sein kann.
Dostojewski hat „Schuld und Sühne“ in einer Zwangslage geschrieben. Er musste seinem Verleger ein Werk vorlegen, um seine Spielschulden aus Baden-Baden zu begleichen. Der Roman wuchs ihm allerdings über den Kopf, zumal er hier auch seine eigenes Todesurteil und seine Sibirien-Strafe verarbeitet hat, zu der er als Atheist verurteilt wurde. Um zu vermeiden, dass der Verleger neun Jahre lang alle Bücher Dostojewskis kostenlos veröffentlichen durfte (denn das war die Abmachung, wenn seinen neuen Roman nicht pünktlich liefern würde), schrieb er in nur 26 Tagen noch schnell das ebenfalls lesenwerte Buch „Der Spieler“. Als diese Schuld abgegolten war, konnte Dostojewski sich endlich wieder seinem Meisterwerk „Raskolnikow“ widmen.
Irgendwann hat mich das Buch dann aus seiner dunklen Verbrechenswelt in meine Realität gespuckt. Wenn Raskolnikow am Ende in der Einöde Sibiriens Liebe und Erlösung findet, wird auch der Leser wieder zu sich selbst geführt. Und so hatte meine Freundin mich nach einer Woche zurück. Aber weil ich Angst hatte, ein anderer Mensch geworden zu sein, habe ich ihr empfohlen, dieses Buch ebenfalls zu lesen. Dummerweise hatte sie eine Uralt-Überetzung, die nichts mit meinem Buch zu tun hatte (ebenso wenig übrigens wie die neue Übersetzung unter dem Titel „Verbrechen und Strafe“). Ich habe ihr mein „Piper“-Exemplar in der epischen und etwas altmodischen, aber deshalb um so kantigeren Übersetzung von E.K. Rahsin geliehen. Danach habe ich sie für eine Woche an Dostojewski verloren.
Inzwischen ist „Schuld und Sühne“ eine Art geheime Orientierung in all unseren Diskussionen über das was Gut und was Böse ist, eine Grundlage für unser Weltverständnis für unsere Partnerschaft und unsere Liebe. Dostojewski hat uns durch die Hölle seiner Welt geführt und damit unseren Blick auf die sogenannte Wirklichkeit verändert.
Wer einmal „Schuld und Sühne“ gelesen hat, braucht dieses Buch nicht wieder zu lesen. Er wird diesen Roman nie vergessen! Wer dieses Buch aber bisher vor sich her schiebt, sollte schleunigst eine Woche finden, in der er es sich leisten kann, der Welt abhanden zu kommen, um als neuer Mensch aus der Literatur aufzutauchen.