Rede zur Eröffnung der Strauss-Tage
Zur Eröffnung der Riachard Strauss Tage in Garmisch hat Axel Brüggemann über die Tabubrüche des komponisten gesprochen. Hier seine Rede in der kompletten Fassung.
von Axel Brüggemann
Sehr geehrte Damen und Herren,
Kann es heute überhaupt noch Tabubrüche geben? Vorbei die Zeit, in der Oscar Wilde für seine erotischen Vorlieben noch eingesperrt wurde, Richard Strauss um die Vorstellungen seiner „Salome“ kämpfen musste und Richard Wagner steckbrieflich gesucht wurde. Heute werden Bücher wie „Feuchtgebiete“, in denen MTV-Moderatorinnen ihre intimen Lüste zwischen öffentlichem Klosett und privatem Himmelbett ausbreiten, zu Bestsellern. Schleiertänze kommen heute ganz ohne Schleier aus – und spielen eher im Nachtprogramm oder im Bahnhofsviertel. Und wem diese schöne, neue und tabulose Welt bislang entgangen ist, der informiert sich eben auf dem Zeitungsboulevard von Bild, Bunte und Co. Blätter, die ein Gespür dafür haben, was uns noch aufregt. In den letzten Wochen war hier in etwa zu lesen:
oder
- Der Abstieg von Franjo Pooth: In Verträgen verstrickt
Natürlich gibt es auch noch andere Zeitungen. So wie die „Süddeutsche“ oder die „FAZ“, in denen der Boulevard den geflügelten Namen „Feuilleton“ trägt. Hier wird jeder Tabubruch sofort als gesellschaftliches Phänomen eingeordnet. Und während der Zeitungsboulevard den Anspruch erheben kann, eine reale Oper zu sein, oder zumindest die Daily-Soap unserer Wirklichkeit, braucht so ein Feuilleton schon die Oper, um auch mal über das schreiben zu dürfen, worüber anständige Journalisten ja eigentlich gar nicht schreiben: Über Sex and Crime, Klatsch und Tratsch.
Die Oper ist ein wunderbarer Kunst-Raum, in dem wir uns gern aufregen dürfen. Und letztlich ist sie natürlich auch eine vollkommen absurde Kunst: Gegen die kleinsten Kopfschmerzen schlucken wir Aspirin. Nur in der Oper geben wir viel Geld dafür aus, mal wieder richtig schön zu leiden. Wir bezahlen dafür, dass Wagner, Strauss, Puccini oder Mozart uns das Herz bei lebendig weinendem Leibe herausreißen. Oder eben dafür, dass sie auf offener Szene dann doch die letzten Tabus brechen. Und dafür zieh’n wir uns auch noch `nen Smoking an.
Und wenn wir genug gelitten haben, der Vorhang sich senkt und der Tabubruch vorbei ist, wenn alles als Illusion entlarvt ist, klatschen wir Beifall. Aber mit was für Illusionen haben wir es in dieser merkwürdigen Opernwelt eigentlich zu tun? Was sind das für Tabubrüche, die uns in Rauschzustände versetzen? Was würde zum Beispiel eine Boulevardzeitung aus den Werken unserer beiden Komponisten-Titanen machen? – Wahrscheinlich erstklassige Schlagzeilen:
Nehmen wir die „Walküre“:
- „Inzest in Baumhaus. Zwillinge zeugen einen Sohn.“
Oder „Salome“:
- „Königstochter nackt! Vater lässt sie erstechen!“
Schön auch Wagners „Tannhäuser“:
- „Popstar im Venus-Bordell entdeckt: Ich bereue!“
„Tristan“ würde auch heute noch schocken:
- „Zukünftige Kanzler-Gattin gesteht: Ja ich hatte einen Liebhaber. Wir küssten uns im Dunklen.“
Und natürlich „Elektra“:
- „Tochter wollte Familie mit Beil erschlagen und tanzt sich zu Tode.“
Das Lustige ist, dass der Opernboulevard sich tatsächlich noch immer als Hochkultur versteht. Als bessere Wirklichkeit. Als Tabubruch, der durch kunstfertige Wort- und Tonfolgen besser ist als die Tabubrüche, die uns anekeln, wenn wir über sie lesen. Das Bürgertum schaut die „Meistersinger in Nürnberg“, während das das Prekariat, wie der Spiegel-Chef-Zyniker Hendyk M. Broder sagte, „Deutschland sucht den Superstar“ schaut. Dabei unterscheiden sich die Schlagzeilen von „BILD“ und OPER nicht wirklich. Die Tabubrüche ähneln sich mehr als manche das wahr haben wollen. Der einzige Unterschied ist, dass die Schlagzeilen der Oper meist erfunden sind.
Aber wer sind die Erfinder all dieser Stories? Wer bekleidet den nackten Skandal mit Tönen? Wer sind die Tabubrecher Richard Wagner und Richard Strauss? Auf den ersten Blick könnten sie kaum unterschiedlicher sein: auf der einen Seite der extrovertierte Revolutionär mit Barett und Schulden, der hitzköpfige Barrikadenstürmer, der in Seidenunterwäsche komponierte und Handstand auf den Bayreuther Biertheken veranstaltete. Auf der anderen der eher zurückgezogene Komponist, der seine Töne nach Stechuhr setzte, sich von seiner Frau pünktlich die Mittags-Suppe bringen ließ, Skat spielte und es sich hier in Garmisch idyllisch einrichtete, während sich die Welt über seine Werke die Köpfe einschlug. Richard Strauss und Richard Wagner – der Biedermann und der Brandstifter?
Natürlich lassen sich genau so gut Parallelen ziehen: Beide Richards träumten von der Abgeschiedenheit des unantastbaren Künstlerraumes. Und für beide waren die Handlungen ihrer Opern, all die Weltuntergänge, die Endzeitszenarien von Familienclans, die nackten, tanzenden Frauen und die skandalöse Todessehnsucht ihrer Charaktere, wohl nicht im Mindesten so revolutionär wie die Unverschämtheit ihrer Musik.
In ihren Rückzugsorten, galt allein das Gesetzt der revolutionären Noten. Wagner und Strauss operierten in ihrer Musik stets am kritischen Grenzbereich der Harmonik, an der Unmöglichkeit der Orchestrierung und an Klängen, die kurz vor der Explosion standen. Wenn es stimmt, was Platon sagte, dass eine Gesellschaft, die an den Gesetzen der Musik rüttelt immer auch an der Ordnung des Staates rüttelt, waren Wagner und Strauss Musik-Terroristen. Wagners Partisanenzelle war Bayreuth, wo er sein eigenes Festspielhaus für seine eigenen Werke baute. Strauss bevorzugte Garmisch – und half die Salzburger Festspiele mitzubegründen, die sich ja ebenfalls einer neuen Dramaturgie und Kunstsprache verpflichtet fühlten. Beide Komponisten hofften auf Schutzräume für ihre Klänge, mit denen sie eine Welt in Frage stellten, die noch nicht reif für ihre Musik war.
Aber was genau ist eigentlich ein Tabubruch in der Musik? In der Oper hat er eine lange Tradition – und meist wurde er gut versteckt. Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt hat einmal über die latenten Tabubrüche in der „Lieto Fine“-Kultur Mozarts gesprochen. Das „glückliche Ende“, das eigentlich gar keines ist. Jene Musik, die am Ende von „Cosí fan tutte“ erklingt, oder im Finale von „Le nozze di Figaro“. Solche Opernmomente, wenn der König in seiner Loge selbst die skandalöseste Handlung noch mit gutem Gewissen abnicken konnte, weil er ein oberflächiges Happy End bekam. Ein Happy End der Handlung, das Mozart in seinem musikalischen Kommentar allerdings bitterböse unterwanderte.
Für Harnoncourt macht genau dieser Moment, in dem der Komponist mit seiner Sprache, der Musik, behauptet, dass nichts gut wird, während alle schunkeln, die Subversivität Mozarts aus. Richard Strauss wusste das natürlich. Nachdem er in „Salome“ und „Elektra“ noch schockte, komponierte er später vermeintliche „Lieto Fines“. Plötzlich wurde er vom Bürgertum beklatscht, das vielleicht nicht mitbekam, wie skandalös selbst seine so genannten „schönen Opern“ wie der „Rosenkavalier“ waren. Heute glaubt keiner mehr an ein Hollywood-Ende, wenn sich Sophie und ihr Rosenkavalier die gegenseitige Liebe zuhauchen. Und lakonisch kommentiert wird: „So sind sie halt, die jungen Leut’.“
Während Wagner in seinen Opern gleich die ganze Welt untergehen ließ, um dann im Orchesterton der Überzeugung das Welterlösungsmotiv erklingen zu lassen, den Sieg der Liebe in der Zukunft, tötete Strauss im „Rosenkavalier“, ganz nach dem Vorbild von Mozarts „Figaro“, still und leise, quasi en passant, die Hoffnung auf die große Liebe. Wenn das kein Affront ist. Ein Tabubruch, der implodiert, statt zu explodieren.
Dass Strauss um die Musik wusste, sehen wir in „Capriccio“. Der Musiker Flamand und der Dichter Olivier umschwärmen die schöne Gräfin – und die kann sich nicht entscheiden. Am Ende bleibt offen, wer ihr Herz gewinnt. Das Credo von „Prima la musica e poi le parole“, also „zuerst die Musik und dann die Worte“, findet im Text nicht statt. Strauss lässt allerdings das Motiv des Musikers am Ende erklingen, gibt somit einen Hinweis darauf, welche Kunst für ihn die stärkere ist, dass die Gräfin sich sehr wohl entscheidet – für La Musica. Die Musik beginnt, wo Worte enden: In der unterschwelligen Bedeutung. Dort, wo sie als Sprache des Unterbewussten dient – als Ort des stillen Skandals und des subversiven Tabubruches.
Natürlich glaubte auch Wagner an die Musik als Mittel des Ausdruckes. Er war ebenfalls ein Meister des inneren, des implodierenden Schlusses: Schon im „Fliegenden Holländer“ hören wir Senta und den Holländer auf der Harfenleider in den Himmel steigen, später wird „Tannhäuser“ zu Elisabeth gebeamt, und auch „Tristan und Isolde“ folgten diesem Schema. Das Tabu des Todes wird durch die in Musik gegossene Hoffnung auf eine bessere Welt aufgehoben. Wagner lässt seine Opern in eine Welt des Ertrinkens, Versinkens, der höchsten Lust münden. In eine Welt außerhalb der Norm harmonisch definierter Musikalität. Und damit in eine Welt jenseits der traditionellen Moralvorstellungen.
Sowohl bei Wagner als auch bei Strauss hat die Musik stets das letzte Wort. Sie ist der eigentliche Skandal. Eine Musik, welche die Ordnung der Welt nachhaltig in Frage stellt. Nachdem die Welt im „Ring“ untergegangen ist, erklingt – quasi als Epilog - das „Welterlösungsmotiv“ und lässt uns doch noch hoffen. Und auch für Salome und Elektra ist die Musik, die hier im Tanz ihren Ausdruck findet, das Mittel des Tabubruches. „Ob ich die Musik nicht höre?“, fragt Elektra, bevor sie sich zu Tode tanzt, „sie kommt doch aus mir.“ Und später behauptet sie, dass man im Zustand ihrer zwiespältigen Freude nichts anderes tun könne als zu schweigen und zu tanzen. Und letztlich ist es im „Rosenkavalier“-Finale nicht anders: So viel Süße wie hier kann einfach nicht gut gehen. Wir haben es ohrenscheinlich mit einer Seelenkatastrophe zu tun. Tabubrüche, die alle ohne Sprache, allein in Noten, stattfinden. Tabubrüche, die zu subtil sind, um als Überschriften im Zeitungsboulevard zu taugen, die aber tiefer gehen und böser sind als jeder Weltuntergang.
Nach Wagners Tode im Jahre 1883 war die musikalische Revolution eigentlich abgeschlossen. Was sollte nach dem „Tristan“-Akkord noch kommen? Jeder weitere Schritt würde die Dur-Moll-Harmonik vollends auflösen.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen vielleicht etwas schiefen Vergleich. In der Malerei hatten wir es in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts mit einem ähnlichen Phänomen zu tun: Picasso und Braque haben die Form durch den Kubismus weitgehend aufgelöst, ohne jedoch die Grenze der Gegenständlichkeit vollends zu überschreiten. Während andere Maler nun begannen, Farben und Formen eigenständige Aussagen zu geben, fand gerade bei Picasso vor der Grenzüberschreitung zur Gegenstandslosigkeit eine Gegenbewegung statt: Er malte überrealsitische, fette, antike Frauen. Die eigentliche Revolution durch die Auflösung der herkömmlichen Form mündete also in zwei kunsthistorischen Möglichkeiten:
1. In der Erfindung einer vollends neuen, eben gegenstandslosen, Bildsprache und
2. In einer neuen Dimension der Gegenständlichkeit. Plötzlich wurde der Schein dessen, was man sah wichtiger als das Sein der gemalten Gegenstände.
Die Auflösung der Form mündete in diesem Fall in einem Hyper- oder Sur-Realismus. In beiden Fällen war – um mit Magritte zu sprechen – ein Bild nicht mehr ein Bild.
Und so könnte man auch behaupten, dass die Musik nach Wagner nicht mehr die Musik vor Wagner war. Der „Tristan“-Akkord war der größte Tabubruch Wagners. Und gerade bei Strauss ist die Angst vor dem nächsten Schritt, vor der vollkommenen Auflösung der harmonischen Grundstrukturen, wunderbar nachzuvollziehen. Nachdem er in „Salome“ und „Elektra“ die Grenzen noch einmal erweitert hatte, sehen wir in „Ariadne“ oder dem „Rosenkavalier“ die Rückkehr zu einem neuen Realismus. Aber es war nicht die Rückkehr in das oft als solches interpretiertes Bürgertum: Puderperücken und Haushofmeister sind böse, beißende, surrealistische Accessoires. Musikalisch hören wir eine Rückkehr in die Harmonik des Wiener Walzers – wohl wissend, dass es nach dem Todestanz der Elektra keinen Walzer mehr geben konnte. Strauss’ Tabubruch lag in dieser Periode darin, eben nicht das alte Tonsystem durch ein vermeintlich neues, die 12-Ton-Musik, zu ersetzen, sondern die Dur-Moll-Harmonik als eigenes, subversives Zeichen zu benutzen. Bei ihm stellte sich die Form durch sich selbst in Frage. Das machte ihn zum legitimen Erbe Wagners.
Die Harmonik war nach Wagner ad Absurdum geführt. Die 12-Ton-Künstler reagierten darauf, indem sie einfach ein neues System erfanden. Aber zuvor verzweifelten Komponisten in ganz Europa an einer Fortsetzung Wagners innerhalb der herkömmlichen Kompositionstechnik. In Frankreich schaffte Debussy einen Erfolg mit „Pelléas et Melisande“, in Italien tüftelte Puccini an der Überwindung Wagners – aber so erfolgreich er beim Publikum war, so sehr haderte er damit, Wagner nicht überwinden zu können. Er verehrte „Pelléas“ und wohnte einer Aufführung von „Salome“ in Graz bei. Einer Produktion übrigens, in der sich genau die Protagonisten der zukünftigen Spaltung der Musik in 12-Töner und Spätromantiker ein Stelldichein gaben: Neben Puccini saßen auch Gustav und Alma Mahler, Arnold Schönberg und Alban Berg im Publikum. Später in seinem Leben gratulierte Puccini Richard Strauss, der legitime Erbe Wagners zu sein. Strauss bedankte sich, ohne allerdings das Lob zurückzugeben. Puccini war enttäuscht, begriff aber, dass seine Opern zwar genial waren, musikhistorisch aber keine konstruktiven Tabubrüche.
Damals war es unmöglich für Komponisten, keine Position zur Person und zum Werk Wagners einzunehmen. Und für Richard Strauss galt das besonders. Sein Vater, der Hornist Franz Joseph Strauss, hasste den deutschen Tonsetzer, nannte seine Musik „Gift“ – und am Tag nach Wagners Tod weigerte er sich als einziger Musiker des Münchener Hoftheaters, sich zu erheben. Trotzdem nahm er seinen Sohn 1882, nach dessen bestandenem Abitur, mit zum „Parsifal“ auf den „Grünen Hügel“.
Richards Begeisterung fand zunächst heimlich statt. Nachdem ihm der erste Geiger in Meiningen, Alexander Ritter, der mit der Nichte Wagners verheiratet war, begeisterte, arbeitete Strauss an seiner mittelalterlichen Rittergeschichte „Guntram“. 1889 wurde er musikalischer Assistent in Bayreuth und korepetierte den „Parsifal“. Cosima begeistert sich für den Komponisten, nannte ihn ihr „Sträusschen“ und setzte alles dran, ihn mit der eigenen Tochter Eva zu verheiraten. Aber so weit ging Strauss’ Wagnerliebe dann doch wieder nicht.
Erst als Strauss mit der „Salome“ seinen eigenen Tabubruch wagte, wurde Cosima skeptisch. Kein Wunder, denn was Wagner 12 Stunden lang im „Ring“ erzählte, handelte Strauss nun in anderthalb Stunden ab: den Untergang einer materialistischen, inzestuösen und in Verträge verstickten Dynastie. Cosima wetterte: „Nichtiger Unfug, vermählt mit Unzucht“ Und Strauss antwortete lakonisch: „Welch Ehre! Heiliger Wagner, wenn du wüsstest, wie Dich Deine Erben unterschätzen.“ 39 Jahre lang mied er die Festspiele. Schön auch das Bonmot, das er Wagner-Sohn Siegfried ins Stammbuch schrieb, als dieser Strauss fragte, ob sein Geschäft so viel abwerfe. Seine Antwort: „Oh ja – und es ist mein eigenes Geschäft und nicht das vom Vater.“
1933 wagte Richard Strauss einen Tabubruch ganz anderer Art für seinen Hausgott Richard Wagner. Nachdem Toscanini die Bayreuther Vorstellung des „Parsifal“ aus Protest gegen den Deutschen Antisemitismus absagte, sprang Strauss ein. Eine Entscheidung, die ihm bis heute vorgeworfen wird. Doch auch hier gilt wieder, dass diese Rettung der Festspiele wohl weniger einem politischen Bekenntnis geschuldet war als der Rettung der Freiheit der Musik an sich.
Und tatsächlich nutzte Strauss sein Dirigat auch, um selbst skandalträchtig zu sein. Als Ivar Andresen die Gurnemanz-Erzählung in getragenem Ton probte, ermahnte der Dirigent ihn: „Warum singen’s denn dös gar so heilig? Dös müssen’s erzähl’n wie’an bayrischer Oberförster, der’an Bock g’schossen hat.“ Strauss dirigierte den „Parsifal“ 45 Minuten schneller als seine Vorgänger – und war damit so etwas wie der Pierre Boulez der 30er Jahre. Ein dirigierender Musikrevolutionär. Sein Lohn war kein Geld, sondern ein Skizzenblatt des „Lohengrin“, das Cosima ihm später schickte.
Tabubrüche in der Beziehung von Richard Strauss und Richard Wagner fanden also auf vielen Ebenen statt – oft unterschwellig und subtil. Manchmal aber eben auch als derbe Erregung öffentlichen Protestes. Dabei muss man wissen, dass das, was wir heute als Skandal empfinden, nicht immer als solcher klar war. Nehmen wir das Beispiel vom Beginn meiner Ausführungen: Den Inzest. Mit ihm haben wir es sowohl bei Wagner als auch bei Richard Strauss zu tun: in der „Walküre“ und – nach Salomes Tanz für ihren Vater – auf einer anderen Ebene in „Elektra“. In beiden Opern geht es um: Geschwisterliebe. Ein Tatbestand, der noch heute juristisch geahndet wird.
Geschwisterliebe ist ein Leitmotiv der antiken Sagenwelt. Griechen und Römer konnten sich nichts Reineres vorstellen als ein von zwei verwandten Göttern gezeugtes Götterkind. Heute halten wir das Liebesverbot zwischen Familienmitgliedern für eine Art zivilisatorisches Moralgesetz, das die Menschen von den Tieren unterscheidet – aber eben auch von den Göttern. Anders als auf der Erde gelten im Himmel nämlich noch immer die archaischen Regeln der Natur: Dort wird das edelste Geschöpf am besten von zwei anderen edlen Geschöpfen gezeugt. Und wenn es sich bei ihnen um Geschwister handelt – um so besser!
Wagner entlieh seine Opernstoffe gern der Mythologie, was auch damit zu tun hatte, dass er sich das antike Theater wünschte: Eine Gesellschaft, die durch Kunst verbessert werden konnte. Die Oper als moralische Instanz der Res Publica. Musik, die eine Gesellschaft nicht nur in Frage stellt, sondern die Kraft hat, sie aktiv zu verändern.
Schon im alten Ägypten lesen wir von Inzest, als der Fruchtbarkeitsgott Osiris seine Anima, die Schwester Isis, ehelichte. Ähnlich verhält es sich mit dem kosmischen Inzestpaar König Sol und Königin Luna. Außerhalb der Menschheit ist der Inzest also kein Tabubruch, sondern, im Gegenteil, eher eine Tugend. Und genau mit dieser Ambivalenz aus göttlicher und menschlicher Moral spielt Wagner in seiner „Walküre“. Für ihn ist der Inzest zwischen den Zwillingen Siegmund und Sieglinde eine Art Sollbruchstelle zwischen Himmel und Erde, zwischen moralischen Gesetzen und entgrenzter, natürlich-animalischer Lust, zwischen Welt- und Naturgesetz, zwischen Menschen und Göttern.
Im Zeugungsakt von Siegmund und Sieglinde, die ja beide Wälsunge sind, also Kinder Wotans und einer Erdenfrau, vereinen sich Geist und Fleisch, Gott und Mensch. Siegfried, ihr Kind, ist nicht nur der reine Tor, der in Wagners Erlöser-Mythologie passte, sondern auch ein Bekenntnis zur Lust. Hier siegt das Gesetz der Leidenschaft gegen jenes der Tugend. Im Akt zwischen Siegmund und Sieglinde können wir einen Aufstand gegen jene bürgerliche und von Wotan vertretene Verfasstheit der Welt herauslesen: Wagners Geschwister erheben den Menschen zum Gott, indem sie Wotan, der die Gesetze für die Welt erlässt, das wahrhaftige Gesetz der Lust entgegenstellen.
Die letzte halbe Stunde des ersten „Walküren“-Aufzuges gehört zu den schönsten Stellen der Musikgeschichte: Zunächst erkennen die Zwillinge einander nicht, bemerken erst langsam, mit wem sie es zu tun haben. Doch dann brechen sich die Frühlingsgefühle Bahnen, der Lenz verdrängt den Wonnemond, der Held zieht das Schwert des Vaters, also den Opern-Phallus, aus der Scheide der Weltesche, im Orchester dröhnen, wallen und wogen Wälsungen- und Liebesmotive und bäumen sich zu Kaskaden höchster akustischer Lust auf. Eine Kopulation nach Noten. Wir hören wie groß und enthemmt eine gesellschaftlich tabuisierte Liebe sein kann. Doch rechtzeitig senkt sich der Vorhang über diesen unverschämten Geschwisterakt. Ein bisschen Scham muss doch noch sein.
Auch bei Richard Strauss begegnen sich im letzten Teil der „Elektra“ zwei Geschwistern. Orest kehrt heim und wird von seiner eigenen Schwester nicht erkannt, die seit Jahren nichts anderes tut als seine Rückkehr zu erwarten. Auch Strauss lässt seine Erkennungsszene in einem schier orgiastischen Musikgebirge erklingen. Noch mehr als Wagner geht er in den Grenzbereich der Auflösung aller Tonartregeln, stapelt Motiv über Motiv, um die Szene dann ins Klang-Nichts zu überführen. So komponiert man Gänsehaut.
„Aber was hat das mit Geschwisterliebe zu tun“, werden Sie jetzt vielleicht fragen? Und Sie haben natürlich Recht: Orest und Elektra vereinen sich nicht in der Lust ihrer Körper. Oder doch: Nur ihre Lust ist nicht die Liebe, sondern ihr Gegenteil, der Hass. Und hier erreicht Richard Strauss tatsächlich die nächste Ebene des Tabubruches. Während Wagner immer wieder die Liebe als welterlösendes Allheilmittel postuliert, geht Strauss einen Schritt weiter. Hier wird der Biedermann endgültig zum kompromisslosen Brandstifter: Seine Vereinigung, seine Geschwisterliebe, sein Inzest, münden nicht in der Vereinigung der Liebenden durch Sex, sondern im anderen körperlichen Extrem: in der Gewalt.
Dabei sind Elektra und Orest so rein wie Siegmund und Sieglinde, ihr Tabubruch des Doppelmordes ist ebenso motiviert wie jener der Geschwisterliebe: „Wir sind bei den Göttern. Wir Vollbringenden“, ruft Elektra. Und sie meint damit, dass der Bruder und sie das Naturgesetz wiederherstellen, indem sie die Machthaber ermorden. Der Hass wird hier zur Steigerungsform der Liebe. „Liebe ist alles. Wer kann leben ohne Lieben?“, fragt Klytemnestra ihre Schwester, und Elektra antwortet ihr kühl: „Liebe tötet.“ Straus verwandelt den Eros zum Thanatos, die Liebe zum Tod, den Lenz zum Herbst.
Um es zuzuspitzen, könnte man sagen: Während Wagner uns in der „Walküre“ ein Stück Hollywood schenkt, läutet Strauss einen Film von Quentin Tarrantino ein. „Ich habe Finsternis gesät und ernte Lust über Lust“, sagt Elektra. Und ihre Lust funktioniert nach dem Prinzip von „Natural Born Killers“ oder „Bonney and Clyde“: Zwei Liebende kämpfen für die Gerechtigkeit, nehmen familiäre Blutrache und steigern sich dabei in eine Orgie der Gewalt. Nach dem Mord stehen sie einer Gesellschaft gegenüber, die sie zwar durch ihre Liebe erlöst haben, in der sie selbst allerdings nicht mehr zu Hause Sind.
Richard Strauss und Richard Wagner bleiben zeitlose Tabubrecher, um die jeder Zeitungsboulevard die Opernliteratur beneiden müsste. Natürlich ist die von der eigenen Mutter gefangene „Elektra“ die Urform moderner Familien-Skandale. Und ich bin sicher, dass die Meister des Regietheaters uns diese Lesart in einigen Monaten auch genüsslich in aller Plakativität vorsetzen werden.
Bleibt allerdings die Frage, warum Richard Wagner seit Urzeiten als Musik-Revolutionär gehandelt wird, wohingegen Richard Strauss noch immer das Image des bürgerlichen Komponisten angeheftet wird. Das mag zum einen mit der Inszenierung der eigenen Person zusammenhängen, vielleicht auch mit der Dynamik des Tabubruches an sich. Heute meinen wir in einer Welt zu leben, in der es keine Tabus mehr gibt. Wie gesagt: Die „Feuchtgebiete“ als Oper würden wir wahrscheinlich müde abwinken. Und vielleicht tendieren wir in einer Zeit, in der im Fernsehen und den Zeitungen täglich Anstrengungen unternommen werden, letzte Tabus aufzustöbern und zu brechen, auch dazu, uns im „Rosenkavalier“ gern der vermeintlichen Schönheit hinzugeben – einer trügerischen Schönheit.
Je schriller, bunter und schreiender vermeintliche Tabus heute gebrochen werden um so mehr entfernen wir uns von den Tabus, die uns tatsächlich berühren. Von der Befragung des Menschen als Kreatur. Wagner und Strauss verunsichern uns durch ihre Nacktheit, ihre Subversivität und ihre schonungslose Ehrlichkeit, mit der sie den virtuellen Raum der Oper als Planspiel für jedes erdenkliche Tabu dekliniert haben.
Und dabei sind es weniger die Tabus der Libretti, die uns noch aufregen als vielmehr die Beweisführung der Musik, die uns in allen Opern immer wieder an den eigenen Rand der Vorstellung treibt, die das Unausdenkliche denkbar macht, die sich an der Grenze aller Gesetze bewegt und uns dort ergreift, wo wir uns selbst nicht kennen: in unserer Kreatürlichkeit. Sie ist das letzte Tabu, das wir haben. Die Kreatur Mensch, die Richard Wagner in die Auflösung des Klanges getrieben hat, die bei ihm noch gegen eine übermächtige Welt tobt. Wagners Tabubrecher haben den Anspruch, das Naturgesetzt der Lust gegen die Gesetze des Staates und der Moral zu behaupten. Richard Strauss nimmt diese Tabubrecher in Empfang und führt sie zurück auf sich selbst: In „Salome“ und „Elektra“ kämpfen sie noch gegen die Welt, im „Rosenkavalier“ sind sie ganz bei sich angekommen. Hier werden selbst die größten Skandalfiguren widersprüchlich, weil sie gegen eine Wirklichkeit kämpfen, in der sie sich selbst bewegen.
Wir können weder Wagner noch Strauss anhören, ohne uns selbst ständig in Frage zu stellen, unseren Glauben an die Schönheit und an die Boshaftigkeit des Menschen, an die Verzweiflung und an die Hoffnung. In ihrer Musik ist alles denkbar, was unvorstellbar ist. Und das ist vielleicht das größte Tabu der Oper überhaupt: Wenn sich der Vorhang öffnet, können wir das Undenkbare, das Skandalöse, die letzten Tabubrüche empfinden, die uns auch dann noch umtreiben, wenn der Vorhang sich wieder geschlossen hat, und der Applaus unsere Wirklichkeit bestätigt, so wie wir uns kneifen, um aus einem bösen Traum zu erwachen.